Dienstag, 5. Oktober 2010

Sich am Friedhof verlaufen


Zehn Uhr Abends. Ich sitz immer noch im Computerraum auf der Uni. Mein Laptop streikt. Ich bin hier gefesselt. Muss ein Essay bis morgen Frueh fertig schreiben. Es gibt keinen Kaffeeautomaten. Mir fallen regelmæssig die Augen zu; einmal kippe ich mit meinem Kopf gefæhrlich Richtung Tastatur. Doch keinem fællts auf - ist ja auch keiner mehr da, der es sehen könnte. Das Ganze macht keinen Sinn mehr, ich steh auf, gehe durch die grosse Aula, an der sich noch einige Gestalten mit ausdrucksloser Miene ueber ihre Skripten beugen , raus durch die grosse Drehtuere. Draussen ist es natuerlich schon stockdunkel. Mit leichtem Wehmut denke ich an meine ersten Tage in Island zurueck: Sonnenuntergang um Mitternacht.

Gedankenverloren gehe ich wie ferngesteuert in Richtung Bett. Ueberquere die Hringbraut, biege die zweite nach rechts, nach hundert Metern stehe ich am Friedhof an. Öffne die Metalltuere und gehe den Schotterweg zwischen den Græbern entlang. Die Lichtkegel, der Laternen ruecken immer weiter in die Ferne, der Weg wird schmaler, die Græber ruecken immer naeher an mich heran, und ich realisiere ich stehe in Mitten der Dunkelheit zwischen Græbern wohin das Auge reicht. Ich bin nicht der Typ der gerne umkehrt. Also gehe ich weiter.

Sigur Arnaldsson 1943 – 1996.

Irgendwie hatte ich das Gefuehl das sich dieser Name dauernd wiederholte und nur die Jahreszahlen varierten. Im Mondschatten der anonymen Græber tastete ich zielstrebig weiter geradeaus. Es war ein komisches Gefuehl. Ich hatte mehr Angst mit meinem Schienbein gegen eine der scharfen Kanten eines Grabes zu stossen als von einem unruhenden Toten ueberrascht zu werden. Bei næherer Betrachtung könnte ich von einem zufællig Vorbeikommenden als ein ebensolcher wahrgenommen werden. Irgendwie fand ich die Situation immer absurder. Nach fuenf Minuten umherirren zwischen toten Islændern und Islænderinnen erreichte ich endlich das Gittertor am gegenueberliegenden Ende des Friedhofes.

Verschlossen.

Ein dickes Vorhængeschloss versperrte mir den Weg in das Reich der Lebenden. Das war dann doch zu viel des Guten. Ich stieg auf eine danebenstehende Muelltonne und lies mich mehr oder weniger elegant ueber die Friedhofsmauer gleiten.




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